Zentrale Trends aus einer langfristigen Anlageperspektive

Einmal jährlich – im Oktober – treffen sich die führenden Research- und Investment-Management-Expertinnen und -Experten von Julius Bär mit ausgewählten externen Gästen im Rahmen einer zweitägigen Tagung, um die zentralen strukturellen Trends der globalen Volkswirtschaften und Kapitalmärkte gemeinsam zu analysieren und neu zu beurteilen. Diese Tagung ist integraler Bestandteil des Anlageprozesses von Julius Bär. Sie bietet uns die Gelegenheit, Abstand vom Tagesgeschehen zu gewinnen und aus einer breiteren Perspektive der Frage nachzugehen, wo wir stehen und wohin sich die Welt entwickelt. Für langfristig orientierte Anlegerinnen und Anleger ist es von entscheidender Bedeutung, die strukturellen Kräfte und ihre Auswirkungen auf die Konjunktur zu verstehen, um die Anlageportfolios entsprechend ausrichten zu können.

Der Übergang vom Neoliberalismus zu einem staatlich unterstützten Kapitalismus – ein Konzept, das wir erstmals 2019 eingeführt haben – ist inzwischen in vollem Gange. Angesichts des neuen geopolitischen Umfelds hat sich dieser Trend massiv beschleunigt. Wir müssen uns jetzt mit einer multipolaren Welt auseinandersetzen, in welcher strategische Rückverlagerungsaktivitäten (Reshoring) aus Gründen der nationalen Sicherheit zunehmen, begünstigt durch eine aktive Fiskal- und Industriepolitik. Die Dominanz der Fiskalpolitik bereitet den Weg für eine unerwartet rasche Normalisierung der Zinsen – was in einem kapitalistischen System grundsätzlich eine gesunde Entwicklung ist, die neue Chancen schafft. Gleichzeitig halten wir es für möglich, dass wir kurz vor einem neuen Innovations-Superzyklus stehen. Die zunehmende Konvergenz verschiedener Technologien – einschliesslich Anwendungen, die auf generativer künstlicher Intelligenz (KI) basieren – wirkt hier als treibende Kraft und könnte im Laufe des Jahrzehnts zu massiven Produktivitätssteigerungen führen. Ferner steckt China in einer Bilanzrezession und kämpft mit strukturellen Herausforderungen, die sich sowohl aus der ungünstigen demografischen Entwicklung als auch aus ungünstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ergeben.

Zwischen zyklischen Entwicklungen und Strukturwandel unterscheiden

Letztes Jahr vertraten wir die Einschätzung, dass sich die Welt seit unserer ersten Tagung vor rund 15 Jahren noch nie derart dramatisch verändert hatte wie in den vorangegangenen zwölf Monaten. Wir kamen zu dem Schluss, dass der Krieg in der Ukraine das Ende der Friedensdividende bedeutete. Für Anlegerinnen und Anleger war der Kriegsausbruch mit seinen massiven geopolitischen, wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen ein entscheidender Wendepunkt. Tatsächlich erfordert ein derart radikaler Paradigmenwechsel eine Neubeurteilung und Neuvalidierung sämtlicher Reaktionsfunktionen, die bislang zum Tragen gekommen waren.

Gleichzeitig waren wir darauf bedacht, zyklische Entwicklungen von effektiven strukturellen Veränderungen sorgfältig zu unterscheiden. Dabei hielten wir fest, dass diese Herausforderung durch eine Reihe von Schocks – den Ausbruch der Covid-19-Pandemie und die anschliessenden geld- und fiskalpolitischen Stimuli, gefolgt vom Krieg in der Ukraine – noch verstärkt wurde. Diese Schocks verzerrten die Konjunktur- und Finanzzyklen massiv und lösten den ersten Inflationsschub seit Jahrzehnten aus. Angesichts dieser Entwicklungen erhöhten die geldpolitischen Entscheidungsträger die Zinssätze aus dem Bereich der finanziellen Repression heraus – und dies in einer noch nie dagewesenen Kombination aus Geschwindigkeit und Umfang. In der Folge ging die 40-jährige Hausse an den Anleihenmärkten zu Ende, und das Platzen der Anleihenblase, welches Anfang 2022 einsetzte, erreichte 2023 ein historisches Ausmass.

Unter der Oberfläche schreitet die postpandemische Normalisierung gut voran, und die in den letzten Jahren ausserordentlich geringe strukturelle Sichtbarkeit hat sich nach und nach verbessert. Rückblickend zeigt sich, dass wir einige prägende Ereignisse der letzten Jahre richtig eingeschätzt hatten und folgerichtig der Versuchung widerstanden, aus ihnen voreilige Schlüsse für das gesamte aktuelle Jahrzehnt zu ziehen. Wir gehen allerdings davon aus, dass die makroökonomische Volatilität aufgrund der neuen geopolitischen Lage weiterhin auf einem höheren Niveau bleiben wird als im vergangenen Jahrzehnt.

Kapital hat wieder einen Preis

Nach der grossen Finanzkrise leiteten die Notenbanken der Industrieländer eine Geldpolitik mit äusserst niedrigen oder gar negativen Leitzinsen ein, die sie mit umfangreichen Programmen zum Ankauf von Anlageinstrumenten kombinierten, um so die kränkelnden Volkswirtschaften zu stützen. Diese Massnahmen waren erforderlich, um deflatorischen Tendenzen vorzubeugen, während der Privatsektor seine Bilanzen bereinigte. Sowohl die US Federal Funds Rate als auch die Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen verzeichneten in dieser Phase historische Tiefststände. Über eine sehr lange Frist, also während der letzten 150 Jahre, schwankte die Rendite der 10-jährigen US-Staatsanleihen jedoch meist zwischen 3% und 5% um den Mittelwert bei 4%. Auch lag die US Federal Funds Rate seit 1954 – dem Jahr, in dem erstmals offizielle Daten der Fed veröffentlicht wurden – im Schnitt leicht unter 5%. Vor diesem Hintergrund sind die jüngsten Bewegungen beider Messgrössen nichts anderes als eine Rückkehr zum Mittelwert.

Die Massnahmen der Geldpolitik im vergangenen Jahrzehnt waren rückblickend ein Experiment, im Rahmen dessen die Zentralbanken ihr Instrumentarium zur Konjunktursteuerung deutlich erweitert haben. Aus Anlegersicht stellt sich dabei in erster Linie die Frage, ob sich damit das Zinsniveau nachhaltig nach oben verlagert hat oder ob wir in Zukunft wieder zur finanziellen Repression (also negativen Realzinsen) zurückkehren werden. Nachdem die Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen im Oktober die 5%-Grenze nach oben durchbrochen hat und die kurzfristigen Zinsen wohl bis ins Jahr 2024 hinein bei über 5% verharren dürften, kann man durchaus die These vertreten, dass die Null- bzw. Negativzinsen, die quantitativen Lockerungen und die von der modernen Geldtheorie (Modern Monetary Theory) inspirierten geldpolitischen Massnahmen der Vergangenheit angehören. Wir halten dieses Fazit allerdings für verfrüht, denn grundsätzlich liegen uns zu wenige Belege dafür vor, dass sich die Wirtschaft in den USA und weltweit dahingehend verändert hat, dass die Zinsen für längere Zeit auf höherem Niveau haltbar sind.

Der Privatsektor ist in den meisten Industrieländern nach wie vor ein Nettosparer. Der Rückgang der privaten Mittelaufnahmen seit dem Ende der grossen Finanzkrise hat noch kein Ende gefunden und führt zu einem strukturellen Abwärtsdruck auf die Kapitalkosten. Entscheidend ist auch, dass unserer Ansicht nach «der Schwanz mit dem Hund wedelt», d. h. dass sich Preisveränderungen bei finanziellen Vermögenswerten überproportional auf die Realwirtschaft auswirken. Angesichts des schieren Volumens der finanziellen Vermögenswerte im Vergleich zur globalen Realwirtschaft und der weltweiten Verschuldung könnte ein kontinuierlicher Renditeanstieg systemische Probleme nach sich ziehen.

Insgesamt ist die Tatsache, dass Kapital wieder etwas kostet, eine fundamental gesunde Entwicklung. Die Normalisierung der Zinsen ist kurzfristig zwar schmerzhaft, mittelfristig aber ein Segen. Wenn Geld billig oder gar umsonst zu haben ist, besteht das Risiko, dass die Wirtschaftsakteure ihr Kapital weniger diszipliniert allozieren und die Mittel z. B. für potenziell unproduktive Zwecke nutzen – etwa zur Finanzspekulation oder zur Finanzierung fragwürdiger Geschäftsmodelle, die nur dann tragbar sind, wenn reichlich Liquidität zur Verfügung steht. In diesem Sinne sind wir nicht traurig, dass die Ära des «kostenlosen Geldes» hinter uns liegt. Im Gegenteil: Angemessene Kapitalkosten sind ein willkommener und notwendiger Anreiz für die Wiederbelebung eines kreativen Selbstreinigungs- und Erneuerungsprozesses in der Unternehmenslandschaft und für ein nachhaltiges Wachstum der Wirtschaft.

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